Strafe: Stories
von Ferdinand von Schirach
»Wenn wir uns verlieben, ist das ein sehr komplexer Vorgang. Zuerst sind wir nicht in den Partner selbst verliebt, sondern in das Bild, das wir uns von ihm machen. Die kritische Phase jeder Beziehung beginnt, wenn dieses Bild von der Realität eingeholt wird, wenn wir also erkennen, wer der andere wirklich ist«,
In seinem Wohnzimmer steht eine Sammlung von Biografien kleiner Männer: Napoleon, Cäsar, Mussolini, Marquis de Sade, Kant, Sartre, Capote, Karajan, Einstein.
Strelitz wohnt in Kreuzberg, einem Stadtteil von Berlin. Er ist stellvertretender Leiter eines Supermarktes. Die Miete für seine Wohnung ist niedrig, er fährt jedes Jahr über Weihnachten für eine Woche nach Tirol und im Sommer zwei Wochen nach Teneriffa. Er hat ein bisschen Geld gespart, besitzt einen vier Jahre alten BMW und ist Mitglied in einem Fitnessclub.
»Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären«, sagt der Vorsitzende. »Vielleicht wissen Sie, dass unsere Gesetze es verbieten, einen Menschen zweimal für die gleiche Tat zu verurteilen.« »Ja.« »Wir Juristen nennen das auf Lateinisch ne bis in idem, übersetzt heißt das: nicht zweimal in der gleichen Sache.
»Die Gedanken eines Menschen dürfen nicht überwacht werden«, sagt der Ermittlungsrichter. »Anders als Tagebücher sind Selbstgespräche gesprochene Gedanken, sie sollen niemandem zugänglich sein und nicht aufbewahrt werden. Sie gehören zur Intimsphäre des Menschen. Der Rechtsstaat unterscheidet sich vom Unrechtsstaat dadurch, dass er die Wahrheit nicht um jeden Preis ermitteln darf. Er setzt sich selbst Grenzen. Wir alle wissen, wie schwer es oft ist, diese Grenzen zu ertragen. Aber wir dürfen die Tonbandaufnahmen aus dem Krankenhaus nicht verwerten, weil die Gedanken eines Menschen frei sein müssen. Sie dürfen niemals der Überprüfung durch den Staat unterliegen. Da es aber im vorliegenden Fall sonst keine Beweismittel gibt, die den Beschuldigten dringend verdächtig erscheinen lassen, hebt dieses Gericht den Haftbefehl auf. Der Verstoß gegen das Waffendelikt durch den bloßen Besitz der Gewehre und Pistolen rechtfertigt die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht.«
»Finden Sie es anständig, sich über die Schwächen anderer zu erheben?«,
Er stellte Fragen, die Seyma unter Druck setzen sollten: »Was würden Sie nie gegen Geld eintauschen?«, »Welche Frage möchten Sie nicht gestellt bekommen?«, »Was ist Ihr größter Fehler?«
Es waren liberale, weltoffene Menschen, sie sprachen Englisch, Französisch, Spanisch und einer der Jüngeren, der mit dem exakten Seitenscheitel, sogar ein wenig Chinesisch. Sie hielten sich politisch auf dem Laufenden, fuhren Ski, spielten Golf und hatten einige der wichtigsten Klassiker gelesen. Ihre Häuser und Wohnungen waren mit Bauhauslampen, Eames-Stühlen und Le-Corbusier-Liegen eingerichtet, und sie unterhielten sich dort über veganes Schulessen, Vaterschaftsurlaub und islamische Gebetsräume in Kindergärten. Sie trennten ihren Müll und wählten alle vier Jahre eine bürgerliche Partei. Aber sie waren nicht frei und würden es nie sein. Deshalb hatte der Alte sie eingestellt. Sie passte nicht an diesen Tisch, so wie der Alte nicht an solche Tische gepasst hatte, als er jung gewesen war und Terroristen verteidigt hatte.
Eine Revision zu begründen ist schwierig. Der Bundesgerichtshof prüft nicht, ob der Verurteilte die Tat begangen hat. Es ist vor diesem Gericht gleichgültig, ob in einem Urteil die Wahrheit steht, solange der Tatrichter die Beweise richtig gewürdigt hat. Sie dürfen nicht widersprüchlich, unklar oder lückenhaft sein. Auch die Höhe der Strafe ist Sache der Tatrichter, nur sie haben den Angeklagten und die Zeugen gesehen. Der Prozess wird vor den Bundesrichtern nicht wiederholt, es werden keine Zeugen und keine Sachverständigen gehört. Nur wenn ein Urteil rechtlich falsch ist, wenn es also ein Gesetz verletzt, wird der Bundesgerichtshof es aufheben. Das passiert selten, die meisten Revisionen werden verworfen.
Es ist ganz gleich, ob wir Apotheker oder Tischler oder Schriftsteller sind. Die Regeln sind immer ein wenig anders, aber die Fremdheit bleibt und die Einsamkeit und alles andere auch.