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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers

von Christopher Clark

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  • Die daraus folgende Polarisierung spiegelte sich in zwei entgegengesetzten pädagogischen Idealen wieder: ein anglophiles, liberal-bürgerliches, gestützt auf die Kultivierung staatsbürgerlicher Tugenden und sozialer Verantwortung, und ein altpreußisches, aristokratisches, gestützt auf die Kultivierung militärischer Fertigkeiten und Disziplin.

  • Es spricht manches für die Vermutung, dass die merkwürdige Unschlüssigkeit der Erziehung Wilhelms, das Schwanken zwischen gegensätzlichen Lebenswelten sowie das Fehlen eines einheitlichen Themas die Herausbildung einer kohärenten Anschauung oder eines stabilen Verhaltenskodexes zumindest hemmte.

  • »Du kennst ihn, er liebt die Opposition, steht unter dem Einfluss meiner Mutter, die, ihrerseits von der Königin von England dirigiert, ihn alles durch die englische Brille sehen lässt. Ich versichere Dir, dass der Kaiser, Fürst Bismarck und ich völlig miteinander übereinstimmen und dass ich nicht aufhören werde, die Festigung und die Aufrechterhaltung des Dreikaiserbundes als meine höchste Pflicht anzusehen.«

  • Wie die australische Kulturhistorikerin Juliette Peers nachweist, ließ Wilhelm nicht nur Entwürfe für ihre Kleider, Juwelen und ausgefallenen Hüte anfertigen, sondern drängte sie auch, ihre schlanke Taille über eine strenge Diät, Medikamente und das Tragen eines Korsetts zu bewahren.

  • Allein in den sechs Jahren von Januar 1897 bis Dezember 1902 stattete er beispielsweise mindestens 123 deutschen Städten wenigstens 233 Besuche ab, wo er jeweils meistens auch eine Rede hielt, die anschließend in der regionalen und überregionalen Presse veröffentlicht und diskutiert wurde.

  • Hingegen war der Inhalt seiner öffentlichen Äußerungen häufig katastrophal fehl am Platze. Es ist wohl keine Übertreibung zu behaupten, dass das Ansehen des Kaisers – sowohl unter Zeitgenossen als auch unter späteren Historikern – weit mehr unter dem gelitten hat, was er sagte, als unter dem, was er tat oder veranlasste.

  • Allerdings war Wilhelm II. denkbar ungeeignet für die kommunikativen Aufgaben seines Amtes, das muss einmal gesagt werden. Es war ihm fast unmöglich, sich so nüchtern und gemessen auszudrücken, wie das politisch informierte Publikum es eindeutig von ihm erwartete. Der schwülstige, subjektive Tenor vieler öffentlicher Äußerungen lud die Kommentatoren allem Anschein nach bewusst dazu ein, die Persönlichkeit des Sprechers zu thematisieren.

  • Wilhelms bombastischste, öffentliche Auftritte glichen Historiengemälden des 19. Jahrhunderts: überladen mit schwülstigem Symbolismus, in dem sich Stürme mit Strahlen erlösenden Lichts abwechselten, wo alles ringsumher dunkel war und erhabene Gestalten über den kleinen, alltäglichen Streitigkeiten schwebten.

  • Sie wirkten übertrieben, pompös, größenwahnsinnig. Sie »gingen leicht über das Ziel hinaus«, wie Holstein sagte.31 Metaphern und Passagen aus Wilhelms Reden wurden häufig herausgepickt und in satirischen Zeitschriften gegen ihn verwendet.

  • Der Kaiser hatte Graf Zeppelin als »den größten Deutschen des 20. Jahrhunderts« gewürdigt, und das nur acht Jahre nach Anbruch des Jahrhunderts. »Bei aller Bewunderung für den bescheidenen Grafen: ist das nicht etwas stark aufgetragen?«

  • Dem kaiserlichen Amt fehlte eine solide Grundlage in der deutschen Verfassung. Die Verfassung sagte kaum etwas über die Rolle und die Vollmachten des Kaisers aus, dessen Amt unter der unscheinbaren Überschrift »Vorsitzender des Bundesrats« erörtert wurde. Dem kaiserlichen Amt fehlte zudem auch eine politische Tradition. In einer berühmten Rede vor dem Reichstag bemerkte der Nationalliberale Friedrich Naumann, dass das deutsche Parlament mangels einer revolutionären Tradition auch ohne den Nimbus einer »Volkslegende« auskommen müsse. Dasselbe könnte man jedoch auch von der Kaiserkrone sagen. Das Kaisertum des Hochmittelalters und der frühneuzeitlichen Habsburgischen Reichstradition lagen zeitlich so weit zurück und waren so andersartig, dass sie kaum als glaubwürdiger Vorläufer der Konstellation von 1871 in Frage kamen.

  • Im Grunde war Bismarck, und nicht der erste Kaiser, die wichtigste, integrative Persönlichkeit des deutschen Reichs.

  • »veröffentlichte Meinung« und »öffentliche Meinung« sind nicht ein und dasselbe.

  • Die Antwort ist eine Mischung von beidem. Es wäre lächerlich zu behaupten, dass Wilhelm maßgeblich kreativ an der Ausarbeitung der Politik beteiligt war – er war viel zu sehr von den Meinungen seines Umfelds abhängig. Außerdem fehlte ihm die Fähigkeit, in einer Weise vorauszudenken, wie es für Persönlichkeiten charakteristisch ist, die in der Politik das Sagen haben.

  • Ebenso falsch wäre es jedoch anzunehmen, dass die Dinge sich ohne ihn genau gleich entwickelt hätten. Wie Holger Afflerbach nachweist, ist es undenkbar, dass Falkenhayn ohne Wilhelms Rückhalt bis zum Sommer 1916 an der Spitze der Heeresleitung geblieben wäre. In diesem Fall war Wilhelm bereit, gegen eine überwältigende Ablehnung des Stabschefs zu handeln (oder genauer auszuharren). Auch im Falle des uneingeschränkten U-Bootkriegs scheint es so gut wie sicher, dass die von Bethmann Hollweg und Wilhelm befürworteten Beschränkungen im Jahr 1916 nicht eingeführt worden wären, wenn der Kaiser die Anschauung des Kanzlers nicht unterstützt hätte.

  • Er vertrieb sich die Zeit mit Holz sägen und hacken, mit ausgiebiger Lektüre, insbesondere populärwissenschaftliche und archäologische Werke, und mit dem Schreiben seiner selbstgerechten Memoiren. Er arbeitete mit Publizisten zusammen, die bereit waren, ein positives Bild von seiner Herrschaft zu vermitteln, gewährte Lieblingsautoren Interviews oder redigierte die Manuskripte wohlgesonnener Biographien.

  • und anderen europäischen – Eliten so verbreitet waren. Andererseits pflegte Wilhelm auch, wie Lamar Cecil und Werner Mosse darlegen, enge Freundschaften zu bekannten, reichen Juden, den sogenannten »Kaiserjuden«, zu denen etwa der Reeder Albert Ballin, die Bankiers Max Warburg, Carl Fürstenberg und Ludwig Max Goldberger, der »Baumwollkönig« James Simon, der Kohlmagnat Eduard Arnhold und andere zählten. Gewiss waren diese Beziehungen zum Teil auch von Nutzdenken getragen, in dem Sinne, dass von diesen Unternehmern gelegentlich Spendengelder zugunsten verschiedener Herzensangelegenheiten Wilhelms flossen.

  • die Katastrophe und Schande einer ganzen Nation. Dieses Buch hat keineswegs die Absicht, den letzten Kaiser zu »rehabilitieren«. Er bleibt, nach meiner Lesart, ein intelligenter Mensch, ausgestattet allerdings mit einem schlechten Urteilsvermögen, der zu taktlosen Ausbrüchen und kurzlebigen Begeisterungen tendierte, eine ängstliche, zur Panik neigende Gestalt, die häufig impulsiv aus einem Gefühl der Schwäche und Bedrohung heraus handelte. Indem seine Äußerungen und Handlungen in den zugehörigen Kontext eingebettet werden, trachtet die Studie danach, Verunglimpfung und Verständnis wieder in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen.

  • schließlich die Flucht des Monarchen geschaffen worden war. Ein charakteristischer Ausdruck dieser Sehnsucht findet sich in den Tagebucheinträgen von Andreas Graf von Bernstorff, dem Spross einer alten Familie, die zahlreiche angesehene Diener des preußischen Throns hervorgebracht hatte: »Uns kann nur ein Diktator noch helfen, der mit eisernem Besen zwischen dieses ganze internationale Schmarotzer-Gesindel fährt. Hätten wir doch, wie die Italiener, einen Mussolini!«8