Winnetou. Erster Band: Reiseerzählung
von Karl May
mein jugendlicher Sinn damals noch nicht. Unerquickliche Verhältnisse in der Heimat, der Wunsch, meine Kenntnisse zu erweitern, und ein angeborener Tatendrang hatten mich über den Ozean in die Vereinigten Staaten getrieben, wo die Bedingungen für das Fortkommen eines strebsamen jungen Menschen damals weit günstiger waren.
Dieser junge Mensch weiß genau, wie weit die Sterne von hier entfernt sind, was der König Nebukadnezar auf Ziegelsteine geschrieben hat und wie schwer die Luft wiegt, die er doch nicht greifen kann! Und weil er das weiß, bildet er sich ein, ein gescheiter Kerl zu sein! Aber steckt die Nase ins Leben, versteht Ihr mich, so ungefähr fünfzig Jahre ins Leben hinein, dann werdet Ihr erfahren, worin die richtige Klugheit besteht.
„Entweder habt Ihr den Teufel, Sir, oder Ihr seid zum Westmann geboren! So habe ich noch kein Greenhorn schießen sehen!“
„Aber, Sir, das ist ja fürchterlich! In Eure Finger möchte ich nicht geraten. Man sollte Euch wahrhaftig Shatterhand nennen, weil Ihr einen baumlangen und baumstarken Menschen mit einem einzigen Fausthieb niederschmettert. So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Dieser Vorschlag schien dem kleinen Hawkens zu gefallen. Er kicherte fröhlich.
„Mein Bruder hat die Wahrheit gesprochen. Nun mag er auch weiter ehrlich und gerecht urteilen. Die Bleichgesichter kommen hierher in dieses Land, das uns gehört. Sie fangen uns die Mustangs weg, sie töten unsere Büffel, sie suchen bei uns Gold und edle Steine. Jetzt wollen sie gar einen langen Weg bauen, auf dem ihr Feuerross laufen soll. Auf diesem Weg kommen dann immer mehr Bleichgesichter, die über uns herfallen und uns auch noch das Wenige nehmen, das man uns gelassen hat. Was werden wir dazu sagen?“
„Ich tue es, ja, sicher, ich werde es tun!“
„Wenn auch! Was Ihr da vorbringt, ist ja alles gut. Aber man darf keinen Fehler begehen aus dem Grund, weil ein anderer ein Verbrechen begangen hat.
Und was für ein elendes Leben würdet Ihr als Büchermacher führen! Ihr müsstet anstatt des herrlichen Quellwassers des Westens dicke, schwarze Tinte trinken und an einer alten Gänsefeder kauen anstatt an einer Bärentatze oder einer Büffellende. Über Euch hättet Ihr statt des blauen Himmels eine abgebröckelte Kalkdecke und unter Euch statt des weichen, grünen Grases eine alte Holzpritsche, auf der Ihr den Hexenschuss bekommt. Hier habt Ihr ein Pferd, dort einen zerrissenen Polsterstuhl zwischen den Beinen. Hier könnt Ihr bei jedem Regen die edle Gottesgabe aus erster Hand genießen, dort aber reckt Ihr beim ersten Tropfen, der fällt, einen roten oder grünen Schirm zum Himmel auf. Hier seid Ihr ein frischer, freier, froher Mann mit der Büchse in der Faust. Dort hockt Ihr an einem Schreibpult und verschwendet Eure Körperkraft an einem Federhalter oder an einem Bleistift, der – na, ich will aufhören und mich nicht weiter aufregen.
Der Kerl hat eine Kraft wie ein Büffel, Muskeln wie ein Mustang, Flechsen und Sehnen wie ein Hirsch, Augen wie ein Falke, Gehör wie eine Maus und so fünf oder sechs Pfund Gehirn im Kopf, nach seiner Stirn zu urteilen.
„Wörtlich und genau auf diesen Fall passend nicht. Doch es kommt darauf an, wie man ein solches Buch liest. Man kann wirklich viel daraus lernen und es dann in der Wirklichkeit für andere ähnliche Fälle anwenden.“
Mein Bruder ist nicht nur stark wie ein Bär, sondern auch listig wie ein Fuchs der Prärie. Wer sein Feind ist, muss sich sehr in Acht nehmen.“
Aber auch nur scheinbar, denn über jedem seiner Kinder wacht der große Weltenlenker, ohne dessen Willen keine Sonne sich bewegt und kein Schmetterling von Blüte zu Blüte flattert.